Ist die Säge stumpf, ist der Weg zum Opfer nicht weit…

Sie sind unter uns. Es gibt sie. Sie tragen sogar Anzug und Krawatte und sie gelten eigentlich als die Stützen ihrer Unternehmen:  die nicht unerhebliche Zahl an „Opfern“ in der Riege der Management-Etage.   Sie sind in meiner Rolle schnell zu entdecken: sie sitzen als mittlere Manager entweder gefrustet oder angriffslustig in Seminaren und beschweren sich hörbar während der Mittagessen entweder über die unfähigen Vorstände oder über die unfähigen Management-Berater, die mal wieder angeblich unnötigerweise das Unternehmen auf den Kopf stellen.

Sie sind unter uns. Es gibt nämlich noch welche! Sie tragen auch Anzug und Krawatte und gelten erst Recht als die Stützen ihrer Unternehmen: die Opfer in der obersten Führungsriege eines Unternehmens. Sie sind auch schnell zu entdecken: sie sitzen mit Dir beim Mittagessen oder in Einzelcoachings und jammern über die schlechten Ergebnisse und die Unfähigkeiten ihrer mittleren Manager und der Belegschaft. Sie lamentieren über die Marktentwicklung und darüber, dass sie niemanden mehr haben, der sie in ihren Problemen versteht.

Opfer sind wohl überall in den Unternehmen – und das macht sie wohl nicht sonderlich erfolgreicher….

Nun ist das mit der Opferhaltung ja so eine Sache. So ganz kann man sich ja nicht davon freisprechen.

Gerade letzte Woche war ich wieder Opfer pur. Jedenfalls habe ich meiner spontanen Enttäuschung freien Lauf gelassen und absolut destruktiv gehandelt.  Was war passiert?

Zu meiner Ehrenrettung muss ich vorausschicken, dass das Drama schon am Vorabend begann. Ich liebe es, abends nach einem Seminartag eine Runde Klavier zu spielen – natürlich nur sofern das Seminarhotel auch ein funktionsfähiges Instrument zur Verfügung hat.  Gestern hatten sie — aber — ich durfte nicht!  „Nein – das ginge nicht“, verriet mir der Concierge, „das sei das einzige Stück in diesem Hotel, das der Hotelmanagerin gehören würde. Sie wäre nicht da und er dürfe niemanden ranlassen“. Das war ein herber Schlag für meinen Stolz. Wenn die beiden nur wüssten, wie ich meinen eigenen Flügel zu Hause hege und pflege – aber nein – der Mann traute seinem Gast nicht über den Weg.  (Dass ich den ganzen Tag über den Wert von „Vertrauen“ referiert hatte, konnte er natürlich nicht ahnen…)

Am nächsten Morgen also schickte ich – wie ich das häufig tue – eine Bitte zum Ausdrucken eines Dokuments für meine Seminarteilnehmer per E-Mail an die Rezeption.  In freudiger Erwartung ging ich kurze Zeit später dort hin und fragte die nette Dame (die mich wegen eines Telefonats ewig lange warten ließ) nach der Fertigstellung der Ausdrucke. Sie verdrehte die Augen und gab mir mit knappen Worten zu verstehen, dass sie leider nicht befugt wäre, die E-Mails einzusehen – ihr fehle das notwendige Passwort.

Da war es dann um meine Geduld geschehen und ich machte aufgebracht am Absatz kehrt und zeigte der armen Dame mit meiner Körpersprache sehr deutlich, welch Leid sie gerade über mir ausgekippt hatte.

Opfer sein ist wahnsinnig einfach. Es gibt uns für den Moment auch eine unheimliche Erleichterung, wenn man sich herrlich über den Unbill des Lebens emotional auslassen kann.  Das Dumme: helfen tut das nun mal gar nichts.

In diesem Fall hatte ich keine Ausdrucke für meine Übung, hatte schlechte Laune, die sich Gott sei Dank nicht im Seminar niederschlug und die Dame der Rezeption hat sich sicher auch nicht gut gefühlt und ist vermutlich nicht sonderlich motiviert ihren nächsten Gästen entgegengetreten.

Wir kennen diese Zustände alle und machen das häufig an unserem Charakter fest.  Bei manchen Menschen scheint der Spalt zwischen Reiz und Reaktion von Natur her einfach enger zu sein, als bei anderen souveräneren Gemütern.

Aber einen Faktor übersehen wir leicht:  die Hemmschwelle zur destruktiven emotionalen Handlung wird erheblich niedergedrückt durch unsere Unfähigkeit, uns Zeit zum Säge schärfen zu nehmen.

Wenn mich jemand fragt, auf was man sich konzentrieren sollte, um Zufriedenheit und Erfolg im Leben am ehesten abzusichern oder zu ermöglichen, dann ist es, seine „Säge scharf“ zu halten, wie das Stephen R. Covey in seinem Literatur-Klassiker sehr einprägsam genannt hat.

Das bedeutet, sich a)physisch (Körper, Gesundheit) , b) mental (Wissen),  c) sozial (wichtige Beziehungen und d) spirituell (ist das alles sinnvoll was ich mache) fit zu halten.

Es gibt immer wieder lange Diskussionen darüber, welche der vier Dimensionen eigentlich die Wichtigste sei.

Die Antwort: „Alle gleich – aber das spielt eigentlich keine Rolle, denn für das Säge schärfen nimmt sich sowieso so gut wie niemand ausreichend Zeit…“

Dabei ist das Unterlassen einer scharfen persönlichen Säge der sicherste Weg in die Opferhaltung.

Die These ist einfach:

  • wenn ich körperlich schlecht beieinander bin (wenig geschlafen, schlecht gegessen, wenig Sport gemacht etc.) bin ich definitiv gereizter.  Die Hemmschwelle zur emotionalen Reaktion ist wesentlich niedriger.
  • wenn ich nicht dazu komme, mich mental weiterzuentwickeln und meinen Horizont zu erweitern, sondern immer nur im gleichen Saft schmore, werde ich früher oder später dünnhäutiger, denn ich spüre unterbewusst, dass ich langsam den Anschluß an die Entwicklungen um mich herum verliere.
  • wenn ich wegen Zeitmangel nicht dazu komme, die Beziehungen zu den wichtigsten Menschen in meinem Leben – sei es privat wie beruflich – nicht in Schuss halten zu können, werde ich dünnhäutiger und emotional angreifbarer für die Störfeuer aus dem Alltag
  • und nicht zuletzt,  wenn ich das Gefühl habe, dass die Leiter auf der ich gerade hochmarschiere an der falschen Wand steht, dann macht mich das im täglichen Wirbelwind auch nicht gerade souveräner.

Zusammengefasst:  ist die Säge stumpf, ist der Weg zum Opfer nicht weit.

Dabei ist das Säge schärfen in allen vier Dimensionen vollständig in unserem persönlichen Einfluss!

Was will man eigentlich mehr??? Da ist ein großer Hebel zu mehr Zufriedenheit und kaum einer nutzt ihn!!

Warum nicht?    Ach ja, da war doch was..   ——  „ich hab ja keine Zeit!“  und   „sich aufregen ist ja zudem so schön leicht!“

Wie konnte ich das jetzt nur wieder übersehen?  Entschuldigung meine Leser. War nur so ein netter Gedanke.

Gehen wir lieber wieder Feuer löschen und uns in langweiligen Meetings anöden und dabei nebenbei unwichtige E-Mails bearbeiten…