Let’s play Jazz

Sofern man Statistiken renommierter Forschungs-Unternehmen glauben kann, haben die Mehrheit aller Reengineering-Maßnahmen nicht ihre angestrebte produktivitätssteigernde Wirkung erzielt. Häufigster Grund hierfür wird in der mangelnden Akzeptanz der neuen Geschäftsprozesse gesehen. Manchmal ist es hilfreich sich Anregungen aus völlig anderen Disziplinen zu holen, um seine Ziele dennoch zu erreichen –

Der Vorschlag: Let’s play Jazz……

„…so könnte es sich zugetragen haben….:

Es ist noch gar nicht solange her, da besuchte ich eine europäische Tochtergesellschaft eines mittelständischen Unternehmens der Automobilbranche und während einer Besprechungspause hielt ich mich alleine im Besprechungsraum auf. Dort hing, fein säuberlich ausgebreitet, über einer Breite von ca. 2 Metern der Prozessplan des neuen Auftrag-Abwicklungs-Prozesses – nach diesem Schema sollten also die Kundenaufträge intern ab sofort abgewickelt werden.

Spontan war ich von der Vielzahl der weißen Kästchen, roten Zahlen und Verbindungslinien fasziniert.

Welch ein kompliziertes Gebilde!

Während ich mir diesen Plan so betrachtete, trat ein Kollege der Tochtergesellschaft herein und erkannte offenbar sofort den Grund meiner Aufmerksamkeit.

„What a miracle, isn’t it?“ entkam es prompt seinem Mund, und er meinte damit unmissverständlich das 2-Meter-Gebilde, welches sich vor mir an der Wand befand. Er ereiferte sich weiter: „So sollen wir jetzt arbeiten? Gerade gestern hatten wir wieder eine mehrstündige Einweisung durch einen Kollegen aus der Zentrale und ich sage Ihnen, hier können wir diesen Prozess so sicher nicht einsetzen!“

„Haben Sie dies dem Kollegen auch so gesagt?“ fragte ich.

„Nein, dazu war jeder zu erschlagen von der Fülle der Information, und überhaupt, was weiß die Zentrale schon, wie wir hier arbeiten müssen um erfolgreich zu sein!“

Ich fragte ihn, ob er nicht einsähe, dass global gültige Regeln für einen sauberen Geschäftsprozess notwendig seinen, auch wenn diese etwas schwierig wären.

„Sicher“, erwiderte er „aber auf diese Weise wie wir es hier sehen ist das viel zu kompliziert! Dann lieber gar keine Regeln.“

Unser eigentliches Meeting setzte sich fort, und ich verließ die Tochtergesellschaft am Abend mit einem mulmigen Gefühl, als ich mich an diesen Vorfall zurückerinnerte.

So hatte ich diese Art Ablehnung gegenüber den dargestellten Geschäftsprozessen auch schon öfter in der Zentrale vernommen, denn Gleiches galt auch für einen anderen Unternehmensbereich, wo der Beweis für die produktivitätssteigernde Wirkung der vor über zwei Jahren eingeführten Geschäftsprozesse gleichfalls noch ausständig war.

Zurück zu Hause setzte ich mich bei einem Glas Wein in meinen Lesesessel und grübelte über mögliche Ursachen der schwierigen Prozesseinführungen nach.

Meine Gedanken wurden unterbrochen, als im Radioprogramm ein neues Musikstück erklang, das ich lange nicht mehr gehört hatte – und es gefiel mir sehr.

Es war eine Live-Aufnahme einer Jazz-Band und das Stück war eine Mischung aus melodischen aber auch a-tonalen Elementen, deren Zusammenhang mir zunächst abstrus vorkam. Die Wirkung auf mich und offenbar auch auf das Publikum war jedoch bemerkenswert.

Die Musiker waren exzellent an ihren Instrumenten, und obwohl es teilweise nicht so danach klang, so wussten sie offenbar zu jeder Zeit, was sie selbst und die anderen Bandmitglieder auf der Bühne zu tun hatten.

Sie brachten das Stück souverän zu Ende, und ich quittierte diese Performance zusammen mit dem Radiopublikum sogar mit Applaus.

Ich musste mich plötzlich an meine Studienzeit erinnern, in der ich nebenbei Improvisationslehre studiert hatte. Ich war zuvor stets der Meinung, man spielt beim Improvisieren nur nach Gefühl und nur das, was einem spontan einfällt – also eigentlich Freiheit und Individualität pur!

Hier hatte ich jedoch weit gefehlt, denn wie schon in der klassischen Musik, so gibt es auch beim Jazz klare Regeln, denen sich der Musiker unterwerfen muss. Auch hier gibt es geschriebene Notenwerte oder zumindest definierte Rhythmen und Harmonien, welche auf Partituren festgehalten sind.

PARTITUR!

Ich spürte, dass dieser Begriff in diesem Augenblick eine große Bedeutung hatte. Ich holte aus meiner Notensammlung eine Jazz-Partitur für ein 5-köpfiges Ensemble hervor und betrachtete es eine Weile. – Für jede Stimme eine Zeile und alles untereinander aufgetragen zur besseren Übersicht – das ganze Werk zudem per Taktstriche über die Zeit aufgetragen – eigentlich eine Prozessdarstellung – und offen gesagt: sie war sehr kompliziert!

Am nächsten Tag verabredete ich mich mit einem Freund von der Musikhochschule. Er ist langjähriger professioneller Jazz-Musiker, und von ihm versprach ich mir sehr viel Hintergründe zum Thema Partitur im Jazz.

Was er mir erzählte war bemerkenswert: Jeder halbwegs gute Jazzer „büffelt“ zunächst die Partitur und prägt sich zumindest die Hauptmelodielinie ein. Viel wichtiger ist jedoch noch das genaue Einprägen der Harmonien und Akkorde, sowie deren Wechsel über das gesamte Musikstück hinweg.

„Das ist zunächst viel Arbeit und erfordert einiges an Disziplin, weil jeder von uns Musikern vom Innersten her ganz frei spielen und improvisieren möchte“ , erzählte er. „Aber die erste Session mit guten Instrumentalisten, die aber vom Stück her unvorbereitet sind, lehrt dich eines Besseren – einfach grässlich….“ und seine Abneigung gegen ein unprofessionelles Ergebnis war ihm geradezu ins Gesicht geschrieben.

„Was ist denn nun wirklich das Erfolgsrezept, dass man auf der einen Seite eine komplizierte Partitur oder Harmonien hat und auf der anderen Seite seine Individualität ausleben kann, und das alles trotzdem ein professionelles Endergebnis produziert?“ fragte ich ihn ungeduldig.

„Zunächst muss es dem Komponisten immer noch gelingen, ein attraktives Stück zu komponieren, weil sonst niemals eine Motivation beim Musiker aufkommen kann – ohne die geht nichts…- außerdem muss es natürlich noch technisch spielbar sein. Dann muss der Jazzer seine Gier nach Individualität zügeln und muss sich zunächst auf den Hosenboden setzen und die Melodieführung und Harmonieabfolge intensiv lernen – ohne diese Kenntnis geht bei aller Motivation hinterher auch nichts.“ und ich spürte, dass er ganz in seinem Element war. „Dann wird natürlich geprobt – denn bei anspruchsvolleren Stücken kenne ich niemanden in meiner Branche der sich vor dem Zuhörer wirklich blamieren möchte. Und dann geht’s tatsächlich auf die Bühne. Wenn die Jungs technisch auch noch fit sind, ist der Erfolg garantiert.“

„Ja aber wieso kommt ihr nun wirklich ohne Dirigenten aus, und wieso endet es nicht im Chaos, obwohl es zwischenzeitlich aus Zuhörersicht manchmal so erscheint?“ fragte ich.

„Das mit dem fehlenden Dirigenten täuscht ein wenig“ sagte er bestimmt. „Wie in jedem Team haben auch wir immer einen, der die Musiker richtig ausgesucht hat und der die Band führt, wenn auch nur in den absolut notwendigen Dingen: für wen treten wir auf, wann fangen wir das Stück an – wie lange wird improvisiert – wann wird das Stück beendet etc. Die Abstimmung untereinander geschieht nur noch durch Blickkontakt und durch ganz einfache Gesten – außerdem müssen diese Hinweise nur zwei oder dreimal pro Stück passieren, denn eines darfst Du nicht vergessen: Jeder kennt die Partitur in- und auswendig und weiß zu jeder Sekunde, auf welcher Harmonie und an welcher zeitlichen Position sich die Musikerkollegen gerade bewegen. In so einem Moment braucht man keinen mehr, der einen führt – gleichwohl wir seine Verantwortung respektieren und er respektiert uns – so funktioniert das.“

Ich war wieder in meine Studienzeit zurückversetzt und zeigte mich entsprechend begeistert „Stimmt, ich kann mich erinnern, denn wenn jeder das Grundgerüst des Stückes im Blut hat, kann er auch Individualität zeigen und jederzeit zu bestimmten Zeitpunkten mit den anderen wieder zusammenkommen. Somit spielt alles am Ende wieder zusammen….“

Ich bedankte mich bei ihm und er wünschte mir für meinen vordergründig nicht-musischen Job noch alles Gute.

Auch seine abschließenden Worte fand ich bemerkenswert: „Ach ja, weißt Du eigentlich, wo für mich der Reiz im Jazz liegt? Es gibt keine musikalische Disziplin, die sich auf seine Zuhörer so flexibel einstellen kann wie wir, und das macht irrsinnig Spaß!“

Zuhause angekommen fiel es mir nicht schwer, entsprechende Analogien für eine erfolgreich funktionierende Organisation herzustellen:

Der Komponist ist meist der Unternehmensberater, der den Prozess (Song) unter Mitwirkung der Prozessbeteiligten konzipiert. Will es ein Erfolg werden, kann es ruhig herausfordernd sein, muss aber trotzdem spielbar sein für das Gros der Mitarbeiter (Musiker), sonst fristet der Prozess immer ein Schattendasein. Dass der Prozess (Song) beim Kunden (Zuhörer) ankommen muss, versteht sich von selbst.

Gleichzeitig haben die Mitarbeiter (Musiker) die Verantwortung und Aufgabe, sich auch mit komplizierten Prozessen (Songs) jeder für sich auseinanderzusetzen. Hierzu dient jedem die Prozessdarstellung samt Prozessregeln (Partitur). Sowenig es sich ein professioneller Musiker erlauben würde, ohne Kenntnis der Partitur vor ein Publikum zusammen mit seinen Musikerkollegen zu stellen, genauso wenig ist es zulässig, dass Mitarbeiter sich nicht selbst mit dem Prozess auseinandersetzen und ihn intensiv lernen.

Angenommen, die Mitarbeiter sind alle technisch für ihre Aufgabe gerüstet, und sie haben den Prozess wirklich gelernt, so sollte das Zusammenspielen zunächst intensiv geprobt werden, will man sich mit Erfolg vor ein anspruchsvolles Publikum (Kunden) stellen – dies ist allerdings eine Übung, die in der Praxis so gut wie nie stattfindet.

Ab jetzt kann man den Prozess gemeinschaftlich in die Praxis umsetzen, und bei guter Vorarbeit aller Beteiligten wird die Partitur so gut wie nicht mehr benötigt.

Jeder Mitarbeiter kennt den Prozess durch Schulung und Eigenschulung, und er kennt durch das intensive Proben auch die Aufgaben und Rollen seiner Kollegen. Erst jetzt kann der Mitarbeiter seine individuellen Fähigkeiten voll einbringen (technische Fertigkeiten und Improvisationskunst), und alle Prozessmitglieder (Musiker) zusammen erzielen  eine fulminante Prozessleistung, gleichwohl kein Prozessablauf dem anderen gleicht (und gleichen muss – denn was ist das eigentliche Ziel? Der Kunde muss zufrieden gestellt werden und jeder Kunde ist anders) .

Kein Jazzkonzert gleicht dem anderen, weil Jazzmusiker und –bands in der Lage sind, sich ihrem Publikum anzupassen wie keine andere Musikgattung sonst.

Warum hinkt das Ergebnis einer Prozessorganisation den Erwartungen meist hinterher?

Eine Hauptursache liegt in den alten Beziehungen einer hierarchischen Führung. Herrscht in einem Unternehmen nach wie vor hierarchische Führungskulturen, so werden die Mitarbeiter (Bandmitglieder) immer auf ihren Dirigenten warten, der sie durch den Prozess (das Stück) führt. Die Mitarbeiter erkennen nicht ihre Eigenverantwortung, sich selbst um ihre Rolle zu kümmern, genauso wenig wie die Dirigenten (Führungskräfte) die Mitarbeiter zu Eigenverantwortung erziehen. Die meisten Reengineeringmassnahmen bzw. die Umwandlung von hierarchischen oder funktionalen Organisationen (z.B. große Streichorchester) in prozesszentrierte, flexible Strukturen (Jazzbands) scheitern schlicht daran, dass die traditionellen Führungskräfte sich so schwer auf die reduzierte Rolle eines Leaders einer Jazzband einstellen kann, genauso wie es für die traditionellen Mitarbeiter (Orchestermitglieder die es gewohnt waren, Note für Note vom Blatt zu spielen) so schwer ist, plötzlich improvisieren zu müssen, ohne, dass es das Gesamtergebnis im Chaos endet.

Interessant ist aber auch festzustellen, dass in der Unternehmenspraxis, weder in hierarchischen starren Strukturen (Orchester) noch in flexibleren Einheiten (Jazzbands) der Ernstfall (Konzert) immer mal wieder geprobt/simuliert wird. Stets geht man von der Theorie sofort in die Praxis über, was etwa folgendem Fall entspricht: man gibt 20 Musikern eine Partitur, geht diese theoretisch am Blatt zusammen durch und trifft sich eine Stunde später auf der Bühne der Carnegie Hall um es dort einem anspruchsvollen Publikum vorzuführen – undenkbar! „

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Daraus lassen sich für die Unternehmenspraxis folgende Empfehlungen ableiten:

  1. Die Berater müssen mit Hilfe der Mitarbeiter Prozesse entwerfen, die für das Gros der Belegschaft von ihren intellektuellen und technischen Fähigkeiten her lebbar (spielbar) sind.
  2. Existiert eine traditionelle Führungskultur, so müssen die Führungskräfte mit Nachdruck, Disziplin und Konsequenz dafür sorgen, dass sich ihre Mitarbeiter mit dem Prozess auseinandersetzen. Ist die erste Regel erfüllt, so gibt es keine Ausreden und Ausflüchte mehr – der Prozess wird gelernt und zwar so lange, bis man ihn im Schlaf beherrscht – andernfalls fallen einzelne Prozessmitglieder (Bandmitglieder) aus dem Konzept, und der Auftritt scheitert.
  3. Aus den beiden ersten Punkten leitet es sich ab, dass ein Geschäftsprozess nicht so einfach aussehen muss, dass ihn auch jeder Erstklässler versteht. Professionelle Geschäftsprozesse sind für Profis gemacht und als Profi sollte sich auch jeder Mitarbeiter verstehen
  4. Bei jedem neuen Geschäftsprozessdesign, aber auch in der laufenden Praxis sollten sich die Mitarbeiter (Bandmitglieder) immer wieder zum Proben und Simulieren treffen. Habe ich noch alle Regeln intus? Weiß ich noch was meine Kollegen zu tun haben? Gibt es am Markt neue Instrumente oder sind neue Spieltechniken aufgetaucht?
  5. Jede Rolle im Prozess (Instrument) muss auch mit einem Musiker/Mitarbeiter besetzt sein, der das Instrument technisch beherrscht und vor allem liebt! Nur wer dort eingesetzt wird und das machen darf (spielen darf), was ihm Spaß macht, wird seine Sache auch gut machen. In professionellen Jazz-Bands ist es undenkbar, einen Schlagzeuger der mittelmäßig Klavier spielt ans Piano zu setzen und umgekehrt.
  6. Aus diesen vorgenannten fünf Regeln wird die Hauptaufgabe der Führungskräfte in einer prozessorientierten Organisation deutlich. Wenn sie dafür sorgen, dass diese Regeln eingehalten werden, wird die Prozessorganisation Beifallsstürme bei ihrem Publikum (Kunden) ernten, denn die Mitarbeiter haben Spaß und können ihre Individualität ausspielen und alles passt kundenorientiert am Ende zusammen.

Deshalb könnte das Motto eines prozessorientierten Unternehmens lauten:

 Let’s play Jazz………..

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