Die Sache mit der „Vision“ – – muss man zum Visionär geboren sein?

Der schädlichste Satz, der in diesem Zusammenhang wohl je gesagt wurde, stammt vom deutschen Altbundeskanzler Helmut Schmidt:  „Wer eine Vision hat, muß um Arzt!“

Da dieser Mann in Deutschland die mit Abstand höchsten Vertrauenswürdigkeitswerte besitzt, ist dieser Satz auch nicht so schnell auszurotten. Da kann man mal wieder sehen, welche Kraft eine große Vertrauenswürdigkeit für eine Führungskraft entwickeln kann….

Aber im Ernst:  Die Vertrauenswürdigkeit und der kontinuierliche Aufbau von Vertrauen ist der Kern einer wirklich guten Führung.  Danach kommt sofort die zweite große Fähigkeit:  eine überzeugende Richtung vorzugeben.

Viele Manager verwechseln Entscheidungsfreude mit Richtungsvorgabe. Wenn eine Organisation gut funktioniert und erfolgreich ist, tritt diese Eigenschaft der guten Richtungsvorgabe meist in den Hintergrund. Aber spätestens wenn ein Sturm aufzieht, die Sicht vernebelt ist, Panik oder nur Unruhe an Bord ausbricht, dann ist die Fähigkeit gefragt zu wissen, was zu tun ist und wohin die Reise gehen soll.

Nehmen wir als jüngsten Beispiel die EURO-Krise (welche im Übrigen wohl noch längst nicht ausgestanden ist — und niemals sein wird, denn die ersehnte Stabilität in dieser jüngsten Globalisierung wird es so schnell nicht mehr geben…).
Es ist unheimlich viel Vertrauen in die Finanzmärkte, aber auch in die Führung der Euro-Staaten verloren gegangen. Man sieht einen Abgrund vor sich und sucht einen Ausweg. Diese Aufgabe überträgt man natürlicherweise den Führungskräften – in diesem Fall den Regierungschefs. Ob USA oder Europa, überall ist plötzlich die Fähigkeit gefragt, zu wissen wo die goldende Zukunft liegt, und den Menschen damit wieder Zuversicht und Hoffnung zu geben. Und wieviele der Regierungschefs entspricht hier unseren Erwartungen und Hoffnungen?  Dabei geht es nicht mal darum, Wahrsager zu werden. Es geht nur darum eine einigermaßen schlüssige Perspektive aufzuzeigen, die den Menschen in den Völkern das Gefühl vermittelt, dass es sich weiter lohnt, sich zu engagieren. Dabei ist dieser Prozess gar nicht so schwierig, wie man immer denkt.

Deshalb auch die Frage:
Ist Richtungsvorgabe damit auch letztlich wieder nichts anderes, als Vertrauen und Zuversicht zu schaffen?  

Absolut. Nichts von dem, was man in dieser, sagen wir mal, „Phase“ spricht oder entwirft, ist ja real. Es sind alles „nur“ Gedanken und Vorstellungen und dennoch sind sie für unser Wohlergehen und gemeinsamen Erfolg von elementarer Wichtigkeit.

Man kann den Satz von Saint-Exupéry in diesem Zusammenhang ja schon bald nicht mehr hören – aber er ist dennoch wahr:  „willst Du ein gutes Schiff bauen, so reicht es nicht die besten Mitarbeiter mit  den besten Werkzeugen zur Verfügung zu haben – Du musst ihnen die Sehnsucht nach dem Meer vermitteln.“

Einer der großen Psychotherapeuten und einflussreichen Menschen unserer Zeit war Viktor Frankl. Er hat sich auf die Behandlung von Menschen spezialisiert, die ihr Vertrauen in ihre Kräfte und jegliche Lebensenergie verloren haben. Seine Therapieform ist und war die „Logotherapie“ und sie hat stets das Ziel, den Patienten wieder einen Lebenssinn zu geben, nach vorne zu schauen und sich wieder Lust auf das Leben zu verschaffen.

Nichts anderes verlangen wir von hervorragenden Führungskräften. Immer dann, wenn die Zuversicht in den gemeinsamen Erfolg sinkt, ist es deren Aufgabe und Pflicht, diese Zuversicht wieder – und das ist jetzt wieder entscheidend – glaubwürdig aufzubauen.

Eine weitere spannende Frage:
Aber zurück zur Ausgangsfrage: kann jeder ein Visionär sein?

Natürlich. Denn wir sind alle mit der Gabe der Vorstellungskraft gesegnet. Es wird Ihnen nicht schwer fallen, sich jetzt in dieser Minute ihren idealen Urlaubsort vorzustellen – oder?

Obwohl wir ihn vielleicht noch nie erlebt haben und schon gar nicht jetzt in dieser Minute. Aber wir haben ihn klar vor Augen. Ob das jetzt der Palmenstrand mit dem eigenen Pavillon oder der Trecking-Weg im Himalya ist.

Visionär zu sein heißt schlicht, seine Vorstellungskraft einzuschalten. Entscheidend ist an dieser Stelle nur, welche Fragen man sich in dieser Übung stellt und wie man zu einem Wunschbild kommt, welches bestimmte Kriterien erfüllen muss:  Es muss für die Organisation natürlich relevant sein, es muss plausibel sein, darf weder unter- noch überfordernd oder gar völlig illusorisch sein.

Aus diesem Grund ist es auch angeraten, die neue Zukunft oder Vision auch letztlich mit anderen zusammen zu erarbeiten, um alle wichtigen Blickwinkel und Kriterien zu berücksichtigen.

Es gibt dabei für mich in der Praxis zwei pragmatische Wege, um eine Vision für die Organisation zu entwickeln. Die einfache Form ist die Frage nach den „glänzenden Augen“.  Man stellt sich und seinen Teammitglieder folgende Frage:  „Was würde mir/uns glänzende Augen verschaffen, wenn wir in x Jahren von heute folgendes SIND/TUN/HABEN?“

Wenn jeder nun seinen Träumen freien Lauf lässt, dies dann miteinander abgleicht und gut filtert, entsteht ein neues konstruktives Bild der Zukunft.

Der zweite pragmatische  Weg zur Vision ist etwas aufwändiger, liefert jedoch ein noch klareres Bild der guten Zukunft. Hierbei stellt man sich vor, in x Jahren von heute fände eine große Feier für Sie und Ihr Team statt.  Sie haben sie nicht selbst einberufen, das hat man von höherer Stelle initiiert aus Freude und Dankbarkeit für die Erfolge Ihres Teams in den letzten Jahren. Sie und Ihr gesamtes Team werden natürlich dazu eingeladen und es gibt eine Menge relevanter Gäste. Üblicherweise werden zu solchen Feiern Reden gehalten und genau hierbei geht es bei dieser Übung, die Sie sehr einfach selbst oder wieder – empfohlenerweise mit ihrem engsten Vertrautenkreis – durchführen.

Frage 1: „Wen würden wir/ich gerne eine Laudatio über uns halten hören wollen?“  Erstellen Sie zunächst eine Liste. Empfohlen sind hier z.B. der eigene Chef oder noch höhere Amtsträger, der Vertreter der wichtigsten Kunden, ein Vertreter der eigenen Mitarbeiter, vielleicht ein fiktiver Vertreter der Kollegen, oder ein Vertreter der Lieferanten oder Geschäftspartner.

Frage 2: „Was würde uns wirklich stolz machen von dieser Person alles zu hören und gesagt zu bekommen?“   Schreiben Sie sich heute diese Rede in der Zukunft. Wovon würden diese Menschen schwärmen? Was haben Sie und ihr Team bei ihnen bewirkt? Wie haben Sie das geschafft? Was war das Neue und außergewöhnliche daran? etc.

Schreiben Sie, was die Feder hergibt und gehen anschließend mit allen Reden in einen Analyse-Prozess und extrahieren Sie alles was Relevanz und Substanz hat und setzen diese Puzzleteile dann zu einem neuen konkreten Zukunftsbild zusammen.

Mit beiden Übungen bekommen Sie ein Kaleidoskop von schlüssigen und visionären Gedanken.  Diese lassen sich leicht in sogenannte strategische oder visionäre Ziele umwandeln und sind somit ein Kompass für alle weiteren Strategieentwicklungen der nächsten 12-15 Monate.

Sie sehen: es ist mit etwas Übung nicht so schwierig ein Visionär zu sein — und ihre Mitarbeiter werden es Ihnen danken.

Und dem deutschen Alt-Bundeskanzler lassen wir seinen Satz einfach mal durchgehen.